02.07.2019Tessin

Von Afghanistan nach Onsernone

Mike hat die ganze Welt bereist. Doch sein Herz ist immer im Onsernonetal geblieben. Wer seinen Fuss in den Garten der Villa Edera setzt, kann sich der Schönheit der Natur und des Panoramas nicht entziehen

Wir befinden uns in Auressio am Eingang zur Villa Edera und stehen dem Hausherrn gegenüber, der den touristischen Infopoint sowie die Wild Valley Hotels betreibt, ein Netz aus Herbergen, das sich mit insgesamt 100 Betten auf die Orte Loco, Auressio und Vergeletto verteilt.

«Wir suchen hier im Tal neue Einwohner.» Es klingt wie ein lustiger Spruch, den Michael Keller lachend zur Begrüssung macht. Doch von Ironie kann keine Rede sein: Im Onsernonetal werden neue Anwohner mit offenen Armen empfangen. Gleich hier übernahm er drei Gruppenunterkünfte für Schulreisen und verhalf den Strukturen zu neuem Leben, indem er sie auf Touristen mit dem Wunsch nach Frieden und Idylle ausrichtete – und Schlafplätze zu günstigen Preisen anbot.

Mike ist 36 Jahre alt. Doch er hat wahrscheinlich schon mehr von der Welt gesehen, als die meisten anderen Menschen in seinem Alter. Geboren wurde er in Locarno, wuchs im Onsernonetal auf, besuchte die Primarschule in Russo und verbrachte die Ferien meist in den USA, dem Herkunftsland seiner Mutter. Mit 7 Jahren veränderte sich sein Leben: Seine Mutter zog mit ihm in die USA, nach Connecticut, einem Bundesstaat zwischen New York und Boston.

«Wir lebten in einer typisch amerikanischen Vorstadt, wo es weder öffentliche Verkehrsmittel noch ein Ortszentrum gab. Das fehlte mir immer.» Und es ist genau das, was Mike am Onsernontal so liebt: Die kleinen Örtchen mit ihren Dorfkernen, mit Piazza und Osteria, wo sich die Menschen auf ein Gläschen treffen, den vorbeifahrenden Autos zuschauen und dabei Klatsch und Tratsch austauschen.

Auressio, Loco, Mosogno, Russo, Crana, Comologno, Spruga und auf der anderen Seite Vergeletto: Es sind die Orte des Tals. Das Wegenetz findet sich auch in Mikes Ostello, an der Treppe, die hoch in das Obergeschoss führt. Dort können die Gäste alte Strassenschilder betrachten, zu denen der Herbergsvater gerne Erklärungen abgibt.

In den USA besuchte Mike dank eines Stipendiums die Fakultät für internationale Beziehungen der Georgetown University, ein Institut, an dem auch Ivanka Trump und Bill Clinton studierten. Eine Präsidentenschule, sozusagen.

Mike absolvierte diverse Praktika in verschiedenen Regierungsbehörden. Er kam jedoch zu dem Schluss, dass das nicht seine Welt ist. Ihm fehlte die Aufrichtigkeit der kleinen Dörfchen.

Nach der Universität war er erst einmal für eine Vereinigung tätig, die sich in Entwicklungsländern engagierte. Auf diese Weise gelangte er in den Senegal, wo er zwei Jahre blieb. Anschliessend kam er zum Roten Kreuz: Von Genf wurde er für ein Jahr in den Tschad geschickt, anschliessend in den Mittlerer Osten, 2010 nach Afghanistan.

Mike stellte jedoch fest, dass der Job, den er für seinen Traumberuf hielt, ihn blockierte: Bürokratische Hürden machten es ihm unmöglich, seine unternehmerische Natur auszuleben.

Also reiste er mit Rucksack quer durch die Welt, kehrte in den Mittleren Osten zurück, wendete sich dort Entwicklungsprojekten zu und eröffnete ein Backpacker-Hostel. Dazwischen zog es ihn immer wieder ins Tessin, wo er die Ruhe und die Authentizität des Tals suchte.

Er betrachtet sich als Opfer des so genannten Onsernone-Syndroms, das jeden befalle, der der Schönheit und Energie des Tals einmal erlegen sei.

Ein Wink des Schicksals. Der 36-jährige Weltreisende macht im Onsernonetal 2016 Termine mit dem Gemeindepräsidenten und den Verantwortlichen für regionale Wirtschaftsförderung – übernimmt die Strukturen in Schwierigkeiten und im Februar eröffnet er ein Profil auf einer bekannten Online-Plattform.

Schon am Folgetag treffen die ersten Buchungen ein. Aus den drei Herbergen wird das Wild Valley Hostels.

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